1872 lernte ich Lithograph und ging die Woche zweimal abends in den Unterricht
zum alten guten Professor Hosemann in die Kunstschule, die damals in der Akademie war,
ebenso zweimal die Woche zum Prof. Domschke, Anatomie, der sehr grob war - und die vollste
Klasse hatte: ,,Wenn se noch nich mehr kenn dann setzen sie sich mit ihr Brett uff die Treppe
un' nehmen nich hier die hoffnungsvollen Jünglinge, die bald nach Italien wollen, den Platz weg!"
- aber die Klasse war übervoll, die jungen freuten sich über den alten Herrn, der so wie der olle
Schadow sprechen wollte - nach ihm hat's P. Meyerheim verstanden das „Berlinern" weiter auszu-
bilden. Der alte Hosemann ließ mich in seiner Wohnung Louisenstr., am Neuen Tor, ganz gern seine
Skizzen u. Zeichnungen ansehen und auch abmalen sagte aber: ,,Gehen Sie lieber auf die Straße raus
in's Freie, beobachten Sie selbst, das ist besser als nachmachen. " Was Sie auch werden - im Leben
können Sie es immer gebrauchen; ohne zeichnen zu können sollte kein denkender Mensch sein.
Es ist ein nicht grade heiteres, von wenig Sonne erhelltes Feld, das ich mir wählte: der fünfte Stand,
die Vergessenen! Ich bewunderte Hans Baluschek, den ich so hoch verehre und nie erreichen werde.
      Als Kind bei Entbehrungen aller Art aufgewachsen, machten die Hogarth'schen Stiche, die
ich als Junge in den Pfennigmagazinen entdeckte großen Eindruck auf mich; ich verglich den
Inhalt der Bilder mit dem Leben das ich um mich sah. Mein Vater war der älteste Insasse des
Schuldgefängnisses, den die Gläubiger schon jahrelang festhielten, bis das Gesetz über die
„Wechselhaft“ fiel. Dort erlebte ich Szenen wie sie Dickens im „David Copperfield" geschildert hat.
  Aus buntem Tuch und Pelzresten verstand Mutter Schweinchen, Hunde, Katzen, Mäuse usw.
plastisch darzustellen, wobei die Schwester und ich bis in die Nacht hinein halfen. Dann wurden die
Tierchen auf ausgezackte Tuchläppchen genäht und gingen als Tintenwischer in die Welt - nachmittags,
nach der Schule von mir verhandelt in den kleinen Schreibwarenläden - im Osten Berlins.
Es kauften auch größere Geschäfte und ich hole mir noch mein Zeichenmaterial von Bormann in der
Brüderstraße und lege mein Geld dafür auf denselben Tisch, auf dem ich als junge den kargen Verdienst für
unsere Arbeit mürrisch hingeschoben bekam. Für die Bewohner im Hause gab es auch viel zu tun. Vom versoffe-
nen Kommodentischler im Keller des Vorderhauses bis zur Rohrstuhl flechtenden blinden Frau in dunkler
Kammer, 4 Treppen hoch im Hinterhaus, wurde ich der Vertraute. Die Woche ging ich 2 mal in den Zeichenunterricht;
das kostete den Monat 1 Thaler, den ich mir selbst verdiente. Von der ganzen Schulzeit waren mir das die liebsten
Stunden, in der ärmlichen Dachstube, Berlin 0., Blumenstraße, beim alten Zeichenlehrer Spanner. Und
merkwürdig, ein Haus weiter wurde ich als älterer Mann in dem Verbrecherkeller, der sich dort befand, von
dem Aufpasser an der Kellertür, den man „Spanne" nennt, mit dem Tode bedroht. Das Sehen und Erleben
in den Kinderjahren half wohl später manche Bildchen gestalten. Oft ists umgekehrt. Die armen Kunstjünger
malen Reichtum und dicke Schinkenbrote, wogegen die reichen Leute die Armen in Wort u. Bild darstellen.
lch bin bei meinem „Milljöh“ geblieben - wenn auch nicht in dem Sinne den mir ein reicher Malerjüngling er –
zählte. Als der zufällich ein paar Kinder, die ich oft gezeichnet habe, als Modell bekam und sich bei der Mutter der
Kleinen beklagte, daß die Göhren so wenig sauber wären, bekam er von der entrüsteten Frau zur Antwort:
„For Zillen könin se ja nich dreckich jenug sind." Also 1872 lernte ich Lithograph, in dem Haus war das alte
berühmte Balllokal: ,,Das Orpheum".  Zum Frühstück mußte ich Bier holen, das konnten wir von den Kellnern
des Orpheums, die eine eigne Kantine hatten und vormittags beim Putzen des Fußbodens, der Spiegelscheiben usw.
waren, bekommen. Da lagen noch betrunkene Männer und Weiber in den Nischen und Logen: die Glücklichen
der Gründerzeit, die die Ernte der Kriegserfolge von 1870-71 einheimsten. Ich kam mal dazu wie sich die
Kellner eine besoffne dicke Hure über den Stuhl gelegt hatten und auf dem entblößten Hintern
einen Dauerskat kloppten. Bei diesem Lithographen wurden die deutschen Heerführer und Fürsten
dutzendweise in allen Größen fabriziert, ebenfalls nach Photographien verstümmelte und geheilte Soldaten für
medizinische Werke auf Stein gezeichnet, Heiligenbilder, Madonnen mit blutenden Herzen, der Gekreuzigte
usw. die dann in den Wohnungen der armen Leute, rechts und links neben dem Regulator hingen. Darunter
baumelten die Kriegsgedenkblätter und Kriegsmedaillen der gefallenen oder verstümmelten Väter und Söhne.
Wir hatten damals ein merkwürdiges Kunstgewerbe, der Triumpf in der Möbelarchitektur war der Muschelaufsatz,
all das frühere Gute ist seit jener Zeit aus den Wohnungen der kleinen Leute verschwunden, das Kunst –
gewerbe ging an die Arbeit. - War auch die Arbeit am Tage nicht so erfreuend, um so mehr waren es die
Abende in der Kunstschule und später im Abendaktsaal der Akademie. Sonntags gings in's Freie, um Landschaft
zu versuchen. Die noch bleibende Zeit mühte ich mich, das auf der Straße Gesehene aus der Erinnerung zu
zeichnen. Der Lehre folgte die Gehilfenzeit; ich kam in gute Werkstätten arbeitete mit R. Friese und
Frenzel, den späteren Tiermalern, und vielen tüchtigen Lithographen zusammen und erlernte den Bunt –
druck. Nach der Militärzeit ging ich zum graphischen Gewerbe, wie Lichtdruck, Zinkographie, Photogravüre
usw. über, da hat mir das etwas Zeichnen können geholfen gute Arbeit zu machen. Mancher Beitrag für
Zeitungen war entstanden, die Zeichnungen und Skizzen sammelten sich an, so daß ich auf Zureden
von Freunden mich zaghaft traute, in der ersten Schwarz-Weiß-Ausstellung der Berl. Sezession
1901 auszustellen. Man war entrüstet über die Verunglimpfung Berlin's und seiner Bewohner.
Nach und nach lernten die Leute sehen, urteilen und mich verstehen. lm Osten und Norden Berlins
verstanden sie mich gleich, als meine Gestalten im Simplicissimus und der Jugend, den ersten
Zeitschriften, die mir gnädig waren, auftauchten. Seit 1907 bin ich nicht mehr im graphischen Gewerbe
und konnte mich mit dem, was mir am Herzen lag, nun ganz und gar befassen.
Meine erste eigene Wohnung war im Osten Berlins im Keller, nun sitze ich schon im Berliner Westen,
4 Treppen hoch, bin also auch gestiegen. Einige Radierungen sind in's Kupferstich - Kabinett ge –
langt und eine Anzahl Zeichnungen und Skizzen in die National Galerie. Jetzt 1924 bin ich sogar
Mitglied der Akademie geworden, dazu schreibe ich das was das völkische Blatt, der
„Fridericus" sagt: Der Berliner Abort- und Schwangerschaftszeichner Heinrich Zille
ist zum Mitglied der Akademie der Künste gewählt und als solches vom Minister bestätigt
worden.    –    Verhülle, o Muse, dein Haupt.

H. Zille. März 1924